Zuhören ist (k)eine Magie
Empathie klingt schnell wie eine ganz fortgeschrittene Technik für Psychologen, Pädagogen und andere „-ogen“. Dabei ist Zuhören uns allen in die Wiege gelegt, sie ist im Kern einfach Präsenz mit dem Anderen. Um wirklich tief zuhören zu können, müssen wir kaum etwas Neues lernen, aber manchmal Einiges verlernen. Und wir brauchen den Mut, einfach da zu sein, da zu bleiben ohne zu werten und nach Lösungen zu suchen. Empathie braucht keine Wort, sondern offene Ohren und ein offenes Herz. Elias Canetti schildert in seinen Lebenserinnerungen sehr eindrücklich, wie Hermann Broch zuhörte – ganz ohne Ausbildung und therapeutischen Zusammenhang und ganz ohne Worte.
Elias Canetti über Hermann Brochs Zuhören
… Er brachte es dazu, dass man über sich sprach, in Rage geriet und nicht mehr aufhören mochte. Man hielt das für ein besonderes Interesse an der Person, die man war, die Absichten und Pläne, die man hatte, die großen Entwürfe. … In Wirklichkeit war es seine Art des Zuhörens, der man verfiel. Man breitete sich in seiner Stille aus, nirgends stieß man auf Hindernisse. Man hätte alles sagen können, er wies nichts zurück, Scheu empfand man nur, solange man etwas nicht ganz und gar gesagt hatte. Während man sonst in solchen Gesprächen an eine Stelle gelangt, wo man sich mit einem plötzlichen Ruck „Halt!“ sagt, „Bis hierher und nicht weiter!“, da die Preisgabe, die man sich gewünscht hat, gefährlich wird – denn findet man wieder zu sich und wie soll man danach wieder alleine sein? -, gab es diesen Ort und diesen Augenblick bei Broch nie, nichts rief Halt, nirgends stieß man auf Warntafeln oder Markierungen, man stolperte weiter, rascher, und war wie betrunken. Es ist überwältigend zu erleben, wie viel man über sich zu sagen hat, je weiter man sich wagt und verliert, umso mehr fließt nach, von unter der Erde springenden heißen Quellen auf, man ist eine Landschaft von Geysiren. Nun war mir diese Art von Ausbrüchen nicht unbekannt, ich hatte sie von anderen erlebt, die zu mir sprachen. Der Unterschied lag darin, dass ich auf andere zu reagieren pflegte. Ich musste etwas darauf sagen, ich konnte nicht schweigen, und in dem was ich sagte, bezog ich Stellung, urteilte, riet, ließ Anziehung oder Ablehnung spüren. Broch, in dieser Situation, ganz im Gegensatz dazu, schwieg. Es war kein kaltes oder machtgieriges Schweigen, wie es von der Analyse her bekannt ist, wo es darum geht, dass ein Mensch sich rettungslos einem anderen ausliefert, der sich kein Gefühl für oder gegen ihn erlauben darf. Brochs zuhören war von kleinen, vernehmlichen Atemstößen unterbrochen, die einem bezeugten, dass man nicht nur gehört, dass man aufgenommen worden war, so als wäre man mit jedem Satz, den man sagte, in ein Haus getreten und lasse sich da umständlich nieder. Die kleinen Atemlaute waren die Honneurs, die einem der Gastgeber erwies: „Wer immer du bist, was immer du sagst, tritt ein, du bist mein Gast, bleib solange du willst, komm wieder, bleib immer!“ Die kleinen Atemlaute waren ein Minimum an Reaktion, voll ausgebildete Worte und Sätze hätten ein Urteil bedeutet und wären einer Stellungnahme gleichgekommen, bevor man sich noch ganz mit allem, was man mit sich herumschleppt, ins gastliche Haus eingebracht hatte. Der Blick des Gastgebers war immer auf einen selbst und zugleich auf das Innere der Räume gerichtet, in die er einen einlud. Es war eine geheimnisvolle Aufnahme, die er einem gewährte, um derentwillen man Broch verfiel und ich kannte damals keinen Menschen, der nicht süchtig danach wurde. Diese Aufnahme hatte keine „Vorzeichen“, keine Bewertung, bei Frauen wurde sie zu Liebe.
Aus: Elias Canetti; Das Augenspiel: Lebensgeschichte 1931-1937, S. 36/37, über Hermann Broch